Wenn sich ein erster Teil trotz technischer Widerstände als Überraschungshit entpuppt, sind Entwickler meist gut beraten, schnell einen Nachfolger herauszubringen. Das tat auch ein kleines Team aus dem Herzen des Ruhrpotts, in rekordverdächtigen (und von brutalem Crunch gezeichneten) 20 Monate stand der Nachfolger bereit. Größer in jeder Hinsicht, gleichzeitig ausgereifter und mit einer Steuerung, die zumindest grundlegend diesen Namen verdiente. Ein Meilenstein, den die Entwickler nie wieder erreichen sollten und der von Fans bis heute verehrt, von Außenstehenden aber häufig nur mit einem Schulterzucken bedacht wird. Am 22. November 2002 erschien Gothic 2.
Der zweite Teil setzt da ein, wo der erste aufhörte: Als weiterhin namenloser Held habt ihr den Schläfer verbannt, zu dem Preis, dass sein Tempel über euch einstürzte. Erst einige Wochen später holt euch der Nekromant Xardas aus den Trümmern. Warum der zwielichtige Magier das tut, bleibt lange ein Geheimnis. All eurer Fähigkeiten und Ausrüstung beraubt, beginnt ein neues Abenteuer, weil der Schläfer mit seinem letzten Schrei nicht weniger als die Armee der Finsternis angeführt von Drachen mobilisiert hat. Aber erstmal gilt es, sich wieder bis dahin zu arbeiten.
Schon das erste Gothic hatte einige Eigenheiten, die es von den meisten anderen Rollenspielen dieser Zeit abhob. Das fängt mit der Spielwelt an, zwar fehlt der Insel etwas der Charm des Freiluft-Knastes, trotzdem ist sie ein raues Pflaster. Selbst in der Hafenstadt Khorinis kann euch ein NPC am helllichten Tag verprügeln, wenn ihr nicht aufpasst. Da musste ich beim Reinspielen wieder ein wenig umdenken, den Komfort sicherer Städte moderner Rollenspiele bietet Gothic 2 nicht, im Zweifel trachtet euch jeder nach dem Leben, Gold oder schlimmeres. Da ganz klassisch nur manuell gespeichert wird, kann ein Game Over viele Spielstunden kosten. Das Kampfsystem bereitete mir auch heute noch Kopfzerbrechen, dafür dürfte der Begriff "Eurojank" erfunden worden sein. Fans lieben es aber innig, ich würde mir aber heute eine Modernisierung wünschen. Dass gerade zu Anfang euch jeder Wolf, Blutfliege oder Goblin schnell das Lebenslicht ausblasen kann stört mich gar nicht so sehr, aber dass es gefühlt mehr darauf ankommt, dass die Kamera nicht im falschen Moment umspringt, hat mich beim erneuten, kurzen anspielen dann doch arg genervt. Ich hatte nie das Gefühl, wirklich die Kontrolle zu haben.
Auch das Talentsystem ist ungewöhnlich: Statt in einem Menü nach jedem Stufenaufstieg Punkte zu verteilen, müsst ihr zu einem Lehrer. Und zwar für wirklich alles, egal ob Stärke, Magie oder Waffenkunst trainieren, in freier Wildbahn oder gar einem Dungeon geht nichts. Ihr bekommt zwar auch Erfahrungspunkte durch erledigte Gegner, für das Abschließen von Quests aber deutlich mehr, weshalb dort euer Fokus liegen sollte. Das macht sich gerade am Anfang bezahlt, weil ihr wieder als halbes Hemd in den Mauern der Stadt zumindest einigermaßen sicher seid.
Für mich war schon damals die Handlungsfreiheit des Spiels beeindruckend. Das begann mit der Frage, bei welchem Handwerksmeister in der Stadt ich in die Lehre gehe, um Bürger zu werden. Welcher der drei Fraktionen ich mich anschließe, was merkliche Einfluss auf den Verlauf des Spiels hat, ist da noch gar kein Thema. Aber es geht nicht nur um die großen Fragen, viele Quests kann ich auf mehrere Arten angehen: Nehme ich das Hilfsangebot dieser zwielichtigen Gestalt an, was mir später Probleme bereiten könnte? Oder verpfeife ich ihn an die Stadtwache oder gar die Paladine? Aber finden die das überhaupt gut, weil sie mit ihm unter einer Decke stecken? Oder auch ihr, war das Minental noch von Männern dominiert, finde ich außerhalb einige Damen, die es genauso faustdick hinter den Ohren haben. Von den NPCs bekommt ihr fast alle Quests, die sich auf teils sehr unterschiedliche Arten lösen lassen. Das fängt schon damit an, wie ich in die Stadt komme: 100 Gold für die Stadtwache klingen einfach, sind zu Beginn des Spiels aber eine Menge. Und nimmt er mich im Unterhemd überhaupt ernst? Andere Wege gibt es, die teils auch belohnt werden – kommt ihr ohne den Obolus an die Wachen zu zahlen in die Stadt, weiß das euer alter Gauner-Kumpel Lares zu schätzen, mit nicht weniger wertvollen Erfahrungspunkten. Auch die unterschiedlichen Konsequenzen und dass ihr euch Wege dauerhaft verbauen könnte, sieht man selbst in modernen Rollenspielen eher selten.
2003 erschien das Addon Die Nacht des Raben, welches einen ungewöhnlichen Weg ging: Statt die Geschichte weiter zu spinnen, wurde eine neue Story als große Sidequest ins Spiel integriert. Auf einem bisher unbekannten Teil der Insel passieren mysteriöse Dinge, über neue NPCs findet ihr den Weg dorthin. Oder ihr ignoriert sie komplett und bekämpft nur die Drachen, spätestens bei zweiten Durchlauf würde ich das aber nicht empfehlen, weil das Addon von mindestens der gleichen Qualität ist als wie Hauptspiel – im Guten, wie im Schlechten.
Nach den Querelen um den Nachfolger Gothic 3 trennen sich die Wege von Publisher Jowood und Entwicklerstudio Piranha Bytes, erstere behielten die Gothic-Marke und ließen ein Addon für den drittel Teil (das nur vernichtenden Kritiken erntet, ich habe mich nie daran gewagt) und einen Nachfolger (der eigentlich nichts mehr damit zu tun hatte und den Markennamen in den Untertitel verbannte) entwickeln. Das Studio aus Essen hob indessen mit Risen und Elex zwei neue Marken aus der Taufe. Jowood ging 2011 nach langem Kampf endgültig insolvent, die Marke Gothic wanderten zu THQNordic, wo sich einige ehemalige Mitarbeiter von Jowood tummelten. Eben dieser Publisher kaufte Piranha Bytes im Jahr 2019. Unter nicht ganz geklärten Umständen (vermutlich durch finanziellen Misserfolg von Elex 2) schließt das Studio Ende Juni 2024. Die Marke Gothic lebt aber weiter, beim im spanischen Barcelona angesiedelten Alkimea Interactive entsteht ein komplettes Remake des Erstlings. Etwas ähnliches wurde für Gothic 2 bisher nicht ausgeschlossen, das hängt aber wohl stark vom finanziellen Erfolg des Remakes ab. Etwas überraschend erschienen 2024 Versionen des ersten und zweiten Teils für Konsolen – aber nur für die Nintendo Switch. Diese sind inhaltlich unverändert, nur die Steuerung wurde für Controller angepasst. Vom Charm des Originals haben sie nichts verloren – im Guten, wie im Schlechten. Gothic war schon immer eine Marke, welche die Gemüter spaltete, und wird es hoffentlich auch immer bleiben.